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Romantisches Brasilien

Romantische Aura mit tropischen Düften lautet der Vorschlag des Duos Oltheten Gomide mit diesen fünf Stücken für Geige und Klavier aus der Feder von brasilianischen Komponisten. 

Text von João Marcos Coelho (Übersetzung: Rita Gravert)

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Daphne Tatjana Mariken Oltheten
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Ungezügelte Leidenschaft, am Rande, sich vom Ego zu lösen und das Objekt seiner Begierde zu vereinnahmen. Auf diese Weise haben Komponisten seit jeher in musikalischer Form ihre Liebe zu Produktionen anderer Künstler gezeigt. Unabhängig davon, ob sich ihre Autoren persönlich kannten oder nicht, blickt man in der Musikgeschichte auf eine ganze Reihe gespiegelter Werke zurück. Zwei gefeierte Künstler des 18. Jahrhunderts illustrieren das Phänomen meisterhaft: Bach und Vivaldi, die sich musikalisch sehr ähneln, einander jedoch zeit ihres Lebens weder begegnet sind noch im schriftlichen Austausch standen. Dennoch transkribierte Bach die Violinkonzerte des Italieners für eines oder mehrere Cembalisoli und bereicherte sie. Auch zwischen Haydn und Mozart kam es zum wunderbaren Austausch eines „Geschenks“ in Form von Streichquartetten, die Mozart unter dem Einfluss seines Zeitgenossen seinem eigenen Werk einpflanzte.

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Darius Milhaud (1892-1974) no Brasil em 1917

Eine ähnliche Leidenschaft bewegte auch den französischen Komponisten Darius Milhaud (1892-1974), als er im Februar 1917, am Vorabend des Karnevals, als Sekretär des Botschafters Paul Claudel in Rio de Janeiro an Land ging. Wie hinlänglich bekannt ist, war Milhaud ein Bewunderer der Populärmusik der Stadt und komponierte in Anlehnung daran einige Klassiker des 20. Jahrhunderts, darunter das Stück „O Boi no Telhado“, das in den 20er Jahren in Paris für viel Aufsehen sorgte.

Weitaus weniger bekannt ist jedoch seine Liebe zur Musik des brasilianischen Komponisten Glauco Velásquez, der 1884 in Neapel geboren wurde und im Jahr 1914 mit gerade einmal 30 Jahren starb. Milhaud widmete seine ersten beiden Monate in der Stadt ausschließlich dem Studium von Glaucos Werk und veranstaltete im April 1917 ein Konferenzkonzert im Liceu Francês. Mit ihm selbst an der Geige interpretierte er gemeinsam mit Luciano Gallet am Klavier die „Sonata n° 2 para violino e piano“ und anschließend das „Trio no. 2“ (mit Alfredo Gomes am Violoncello), das einhellig als eines der schönsten Stücke Glaucos angesehen wird.

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Die problematischen Strukturen in den kulturellen Beziehungen, die nicht-europäische Länder insbesondere im Falle klassischer Musik – die Bildungsmusik – zum musikalischen Kanon Europas pflegten, werden an einem Detail besonders deutlich. Milhaud hielt seine Rede auf Französisch, die – man staune – im urcariocischen Blatt „Jornal do Commercio“ ebenfalls auf Französisch abgedruckt wurde. Französisch war die Sprache der gebildeten Schicht, mit der sie sich vom Rest der Bevölkerung abhoben. Selbst der Avantgarde-Künstler der ersten Stunde, Oswald de Andrade, gründete und verlegte im Jahr 1914 eine vollständige Publikation in dieser Sprache. Im Hinblick auf die Musik war die Situation ähnlich. Auch hier orientierte man sich am Alten Kontinent, bis Villa-Lobos in den 20er Jahren die brasilianische Musikszene revolutionierte.

Was Milhaud an der Musik von Velásquez am meisten gefiel, war gerade ihr europäischer Einschlag: ihre profunden Ähnlichkeiten mit der europäischen Romantik, voll gewagter Harmonien und expressiver Melodiekurven. Der Dirigent Lutero Rodrigues, der diese historische Epoche vor Villa-Lobos eingehend studierte, bestätigt, dass „Glauco alles besaß, um die Aufmerksamkeit, die Villa-Lobos in der brasilianischen Musikszene erhält, zu teilen, wäre er nicht so früh gestorben“. Milhaud seinerseits beschließt seine Liebeserklärung mit einem goldenen Schlüssel: „Glauco gehörte zu den ganz großen Musikern“. Hört man das feine, hoch entwickelte „Desio“ (Begehr), ein kurzes Stück voll verwegener Harmonien, stimmt man dem Franzosen unumwunden zu.

Die brasilianischen Komponisten, die Henrique Gomide und Daphne Oltheten in diesen wunderbaren Videos interpretieren, geben einen Einblick in die Ambiguität klassischer brasilianischer Musik zwischen 1880 und 1920. Damit schlagen sie einen historischen Bogen, der rund ein halbes Jahrhundert umfasst. Drei von ihnen zollten den großen europäischen Meistern ihrer Zeit Tribut: Carlos Gomes, Henrique Oswald und Glauco Velásquez. Lorenzo Fernández und Luciano Gallet hingegen reihen sich in die nationalistische Ästhetik des Komponisten Heitor Villa-Lobos und des Kritikers, Dichters und Musikologen Mario de Andrade (1893-19445) ein. Letzterer war zudem Hauptakteur der Woche der Modernen Kunst (Semana de Arte Moderna) im Jahr 1922, einer Veranstaltung, die bis heute, also noch hundert Jahre später, als möglicherweise wichtigster Scheidepunkt für brasilianische Kunst und Kultur angesehen wird.

Der brasilianische Komponist Leonardo Martinelli verwendete in einem Klappentext einer Aufnahme zweier Sonaten für Geige und Klavier von Velásquez den Ausdruck „tropische Romantik“. Das beschreibt die Atmosphäre der vorliegenden fünf Stücke, die aus der Feder eigentlich sehr unterschiedlicher Künstler stammen, ziemlich treffend. Sie alle schultern die Ambiguität, einem europäischen Kanon gerecht werden zu wollen und zugleich in einem Land zu leben, das wenig – oder fast nichts – mit dem Alten Kontinent gemein hat. Wir sprechen natürlich von den letzten Jahrzehnten des 19. und den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts.

Den Auftakt bilden Antonio Carlos Gomes (1836-1896), der Dekan dieser Sammlung, und Henrique Oswald (1852-1931). Ein Großteil der Bibliografie, die aus modernistischer bis hin zur brasilianischen Perspektive, oder tropikalen geschrieben ist (die sich durch musikalischen Nationalismus auszeichnete), verwendet viel Tinte darauf, zu definieren, ob die jeweiligen Komponisten das Adjektiv brasilianisch verdienen oder nicht. Eine Verzerrung, wie sie durch eine rückwärtige nationalistische Perspektive zustande kommt. Carlos Gomes beispielsweise absolvierte seine gesamte Musikkarriere in Italien. Er triumphierte 1870 mit der Oper „Il Guarani“ und lebte mit der Unterstützung der imperialistischen Regierung von Dom Pedro II in Europa (am Ende seines Lebens, als Brasilien bereits seit 1889 eine Republik war, wurde er wegen seiner monarchistischen Verbindungen verjagt und beschimpft). Wen das interessiert, der lese die Kapitel, die Carlos Gomes in den Büchern „História da Música Brasileira“ von Bruno Kiefer (Ed. Movimento, 1997) oder „História da Música no Brasil“ von Vasco Mariz (Ed. Nova Fronteira, 2000) gewidmet sind.

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Die Faktenlage ist denkbar simpel. Carlos Gomes wuchs in einem, aus musikalischem Standpunkt aus betrachteten, vollständig italienisierten Brasilien auf. Hier regierte die Oper. So sehr, dass der größte brasilianischen Schriftsteller Machado de Assis (1839-1908), der unter anderem auch Musikkritiker war und sich gar als Operndichter versuchte, schrieb: „das Publikum von Rio de Janeiro stirbt für eine Melodie wie ein Affe für eine Banane“. Es war nur natürlich, dass Carlos Gomes sein Talent – und er war ein Ausnahmetalent, wie u.a. „Il Guarani“ und „Condor“ beweisen – auf die Bühnen der Dichtung führten. Zu einer Zeit, als Giuseppe Verdi der wichtigste und meistgefeierte Opernkünstler der Welt war, feierte er im Jahr 1870 die Uraufführung von „Il Guarani“ an der Mailänder Scala. „Al chiaro di luna“ ist eine Ode an die Melodie, wie übrigens auch sein bekanntestes Stück „Quem Sabe? (Tão longe de mim distante)“.

Der Pianist und Professor für Klavier am Musikinstitut der ECA-USP, Eduardo Monteiro, widmete Henrique Oswald seine Dissertation. Verwundert stellt er fest: „für den Wissenschaftler ist es faszinierend, mit dem Werk eines Komponisten wie Henrique Oswald konfrontiert zu sein, der, bereits zu Lebzeiten hochgeschätzt und bewundert, heute ausgerechnet für jene Themen in Erinnerung geblieben ist, denen er sich nicht widmete oder für das, was er nicht repräsentierte“. Mit anderen Worten, unser Blick ist verstellt durch die nationalistische Interpretation.

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Geboren 1852 in Rio de Janeiro, verlebte Oswald seine gesamte Kindheit und Jugend in São Paulo, baute jedoch praktisch seine gesamte musikalische Laufbahn in Europa auf, wo er mit seiner Mutter hingezogen war und viele Jahre lebte, bis er 1903 zum Leiter des Instituto Nacional de Música in Rio de Janeiro einberufen wurde. Heute erlaubt uns die historische Distanz, seine Musik als schöne brasilianische Frucht, eingebettet in die europäische Romantik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, einzuordnen. Sein elegantes Schreiben, die formale Sorgfalt und die typisch romantische Vorliebe für kleine Formen und Miniaturen – all dies findet sich in der „Romanza“ für Geige und Klavier wieder.

Henrique Oswald (1852-1931)

Sein langes Leben (er wurde fast 80 Jahre alt) erlaubte ihm, zwanzig Jahre in Brasilien (die der späten Reife) vierzig Jahren in Europa gegenüberzustellen. In den 1910er Jahren war sein Haus ein obligatorischer Treffpunkt nicht nur für einheimische Musiker, sondern auch für Virtuosen, die in Rio de Janeiro Station machten oder dort auftraten, darunter Rubinstein, Casals, Respighi und natürlich Milhaud.

Zwei Komponisten, die Oswald viele Jahre begleiteten und in gewisser Weise von seiner Vorliebe für Kammermusik beeinflusst waren, waren Luciano Gallet (1893-1931) und Oscar Lorenzo Fernández (1897-1948). Im Gegensatz zu ihm hingen sie jedoch nationalistischen Idealen nach.

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Luciano Gallet (1893-1931)

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Oscar Lourenzo Fernández (1897-1948)

Im seinem bereits genannten Buch findet sich folgende Feststellung von Vasco Martiz: „Die Woche der Modernen Kunst hatte 1922 vorwiegend die Anerkennung der Werte von Musik, die einen Nationalcharakter hat und schrittweise als moderne Kunst akzeptiert wurde, zur Folge. In Wahrheit hatte diese Musik, die aus der Folklore hervorging, bereits seit etwa fünfzig Jahren Applaus aus Europa erhalten, doch die Distanz und die postkolonialen Vorurteile verspäteten ihre Weihe im eigenen Land“ (S. 111).

Das Stück „Romance no. 1 para violin e piano” wurde 1918 von Luciano Gallet als Hommage an Benjamin Costallat (1897-1961) komponiert. Erst auf ernstes Anraten durch Oswald und Velásquez hin widmete er sich ab 1913 ernsthaft der Musik. Der Tod von Glauco im darauffolgenden Jahr traf ihn sehr. Bereits 1915 war Gallet einer der Mitbegründer der Sociedade Glauco Velásquez in Rio de Janeiro, die zwischen 1915 und 1918 Konzerte und die Veröffentlichung seiner Partituren förderte. Seine beiden anderen Idole waren Darius Milhaud (mit dem ihn die Leidenschaft für Velásquez’ Musik einte) und Mario de Andrade (von da an bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1931 sein größter Einfluss). Seine „Romance“ war noch im „Europäischen“ verhaftet, wenn man so will.

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Was Lorenzo Fernández betrifft, so gilt er zu Unrecht als Komponist mit nur einem Werk, dem „Batuque“ (der dritte Tanz seiner Suite „Reisado do Pasteiro“ aus dem Jahr 1930), aufgenommen unter anderen von Toscanini, Koussevitzky und Bernstein, die damit großen Erfolg beim Publikum feierten. Er ist insbesondere bei lateinamerikanischen Dirigenten eine der beliebtesten Zugaben. Die Musikologin Susana Igayara schreibt in einem Artikel über den Komponisten, es gebe bis heute nicht ausreichend Studien, „um die Bedeutung dieses Komponisten in der brasilianischen Musikgeschichte hinreichend bemessen zu können“. Er machte 1917 seinen Abschluss am Instituto Nacional de Música. Als Brasilianer der ersten Generation mit spanischen Eltern – daher auch Fernández mit Akzent auf dem „z“ – absolvierte er seine gesamte Ausbildung in Brasilien und verließ Lateinamerika Zeit seines Lebens nie.

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„Sein Schaffen“, schrieb Mario de Andrade, „hat nichts von diesen ekstatischen Erfindungen zu tun, mit denen Villa-Lobos die Technik umschifft, um eine mögliche ‚Technik‘ zu erreichen, die allein durch die Schönheit des Werks gerechtfertigt ist“ (aus der Chronik der Zeitung „Diário de São Paulo“ am 26. Januar 1934, zu finden in der Aufsatzsammlung „Música e Jornalismo“ von Paulo Castagna, Ed. Hucitec, 1993).

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Einen guten Abschluss bildet ein weiteres Zitat von Mario aus demselben Artikel. Nachdem er schreibt, Fernández verwende „die Errungenschaften der gegenwärtigen Musiktechniken“, fasst er zusammen, derselbe „findet Vergnügen daran, sie mit sicherer Hand zu adaptieren, wo sie einer unentbehrliche wie unerlässliche Logik folgen“.

Genau das empfinden wir, wenn wir sein Stück „Nocturnal para violino e piano“ von 1924 hören, mit den drei modernen Auftaktakkorden von Henrique Gomide am Klavier und dem Geigeneinsatz von Daphne Oltheten. Ein ideales Abschlussstück für diese musikalische Reise, die stets einen Drahtseilakt zwischen europäischen Wurzeln und einer romantisch-tropischen Aura vollführt. Eine Praxis, die der Brasilianer Silviano Santiago in ihren besten Momenten als „falschen Gehorsam“ bezeichnet: das Europäische kopieren, es jedoch dem tropischen Kanon unterwerfen.

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João Marcos Coelho, 28. Dezember 2021

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